Publikation

'Der weiße Neger Wumbaba - Darmstädtereien oder Das Glück von der bitteren Süße in der Literatur'

Autor: Peter Benz
Veröffentlichung: 2011
GHL-Nr.: 117

Zum Inhalt

Festvortrag von Peter Benz zum 50-jährigen Jubiläum der Gesellschaft Hessischer Literaturfreunde.

Mit einem Vorwort von Albert Filbert und einem Nachwort von Albrecht Dexler.

Leseprobe

" (...) Der Geist einer Stadt lebt von Erzählungen, von Legenden und Mythen, die immer und immer wieder tradiert werden, bis sie als historisch verbrieft auf Straßenschildern erscheinen. Eines dieser Narrative für Darmstadt beginnt am heutigen Schnampelweg. Hier soll der Dichter Matthias Claudius sein „Abendlied“ gedichtet haben, wenigstens aber von der Landschaft inspiriert worden sein. Vor einigen Jahren stach mir der wunderliche Titel eines Büchleins „Der weiße Neger Wumbaba“ ins Auge, das sein Autor Axel Hacke ein kleines Handbuch des Verhörens nennt und unzählige Beispiele vom falschen Verstehen bekannter Lied- und Gedichtzeilen aufführt. Ich fand auch den weißen Neger. Berichtet wird von Kindern aus unterschiedlichen Regionen Deutschlands, die alle übereinstimmend ein Verständnisproblem mit dem letzten Vers der ersten Strophe hatten und sich demzufolge verhörten. „Der Mond ist aufgegangen,/ die goldnen Sternlein prangen/ am Himmel hell und klar;“ – Das erfasst ein Kind recht konkret. Aber dann wird´s schon schwieriger: „der Wald steht schwarz und schweiget,/ und aus den Wiesen steiget/“ – wer? „der weiße Nebel wunderbar.“? Nein, das kann nur ganz anschaulich „der weiße Neger Wumbaba“ sein. Dieses Claudius-Gedicht, das mit sprachlicher Leichtigkeit den Volkston trifft, von Herder bezeichnenderweise als Musterlied unter die anonymen Volkslieder in seine Sammlung aufgenommen und 1816 von Schubert vertont, wird mit kindlich-dichterischer Kraft weitergesponnen und beschenkt uns mit einer neuen Stilfigur, die eine sinnreich pointierte Verbindung zweier einander scheinbar widersprechender, sich eigentlich ausschließender Begriffe herstellt. Diesem Oxymoron gelingt es, aus der kindlichen Unbegreiflichkeit der Welt heraus einen neuen Kosmos zu schaffen, der aller Phantasie Raum gibt.

Wir haben hier ein gelungenes Beispiel von literarischer Weltverarbeitung. Die Dichtung ist ein Ort der Selbstverständigung, ein Spielraum der produktiven Einbildungskraft und zugleich ein Mittel eben der Weltbewältigung. Sie gibt Auskunft über den Menschen und mehrt das Wissen um die Hintergründe der Welt. (...) "
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